von Friedrich Schärer,  Weil a. Rh.-Ötlingen

„Los, runter mit Euch!" — brüllte der britische Sergeant, als die Ladeklappen des rie­sigen Transporters, auf dem über 100 gefangene deutsche Soldaten zusammenge­pfercht waren, herunterpolterten. Auf einem großen, mit Stacheldraht umzäunten Feld, ganz in der Nähe des Meeres bei Bellaria, war nun anscheinend unsere letzte Station in diesem fürchterlichen Krieg erreicht.

Foto Kanisterorgel

 

Überall sprießte das erste Grün, und der Mai 1945 ging seiner höchsten Blütezeit entgegen. Unsere Gedanken wanderten über Hunderte von Kilometern der Heimat zu, und jeder fragte sich, ob und wann er sie wohl wieder einmal sehen würde. Hinter uns lag der hohe Apennin, unser letztes Einsatzgebiet, umgepflügt von Tau­senden von Granaten und Bomben; und hier sammelten sich nun die traurigen Überreste einer einstmals stolzen Armee, abgerissen und zerschrammt vom wo­chenlangen Stellungskrieg in den Schützengräben des Apennin. Abgemagert und hohlwangig ließ man sich übermüdet in das frühlingshafte Gras fallen, mit dem Wunsch, jetzt nur noch schlafen. Glücklich diejenigen, die ein kleines Zelt als Ob­dach ihr eigen nennen konnten und dazu noch einen alten Kameraden als Nachbarn hatten, der mit dir die letzte Zigarette und das letzte Stück Brot teilte. Über 100000 Mann sammelten sich nun in diesem Bereich und wurden in einzelne Lager bis zu 10000 Mann aufgeteilt.

Langsam kam dann Ordnung in das Lager, und die vielen tausend Mann wurden in Arbeitsbrigaden aufgeteilt, und nur ein kleiner Teil, in der Hauptsache die gesund­heitlich Schwachen, blieben im Lager zurück.

Auch die Verpflegung besserte sich, wenn auch 12 Mann ein Brot miteinander teilen mussten. Im Laufe der Wochen und Monate stapelten sich nun zu Tausenden leere Verpflegungsbüchsen, darunter viele seefeste Weißblechkanister, die sich zu einer riesigen Blechhalde türmten. Hinzu kamen noch unzählige leere Munitionskisten aus Holz und Granathülsen aller Kaliber, die von den Gefangenen zusammengetra­gen wurden. Dieser riesige Schutthaufen erschien uns wie ein Spiegelbild des eigenen Untergangs an der Front und in der Heimat, und jeder fragte sich täglich: Wie mag es wohl daheim aussehen bei unseren Lieben?

Einer von diesen Tausenden von Gefangenen wuchs wohl über sich selbst hinaus, als er versuchte, den Abfall des Krieges zu ordnen und damit etwas fast Unmögli­ches zu vollbringen.

Ein Orgelbauer aus dem Rheinland machte sich ans Werk und er formte aus vier Weißblechkanistern jeweils eine Orgelpfeife. Viele Kameraden belächelten sein Tun mitleidig, aber er ließ sich nicht beirren, und schon fanden sich auch andere Kame­raden bereit, ihm bei seinem Vorhaben zu helfen. Unter seiner Anleitung wurde das Material gesichtet und die blechernen Kanister auseinander geschnitten. Mit Ver­wunderung sahen die englischen Wachmannschaften diesem Treiben zu, erst voller Zweifel und Skepsis, weil keiner an das Gelingen glauben wollte; aber gerade in die­sem unerschütterlichen „Trotzdem" war der Erfolg begründet. Die guten Bretter aus den z.T. durchlöcherten Munitionskisten wurden herausge­sägt und für das Gerippe der Orgel zugeschnitten. Immer mehr Kameraden beteilig­ten sich nun an diesem grandiosen Werk, und nun begann sich auch die englische Lagerleitung für das unglaubliche Vorhaben zu interessieren und erbot sich plötzlich, durch entsprechende Material- und Werkzeuglieferung zum Gelingen mitzu­helfen. Unser Orgelbauer blieb jedoch bescheiden, und er bat lediglich um das Nö­tigste. Mit großer Begeisterung waren nun Hunderte von Händen am Werk. Die ei­nen schnitzten Tasten und Manuale, andere bohrten Ventile und leimten Bälge. Endlich nach Monaten war es dann soweit! Die Orgel stand prächtig inmitten des Lagers. Klappladen waren zum Schutze der Pfeifen gegen Wind und Wetter ange­bracht, und als man sie auseinanderklappte, glitzerten die vielen Weißblechpfeifen in allen Größen in der Morgensonne und ihre Strahlen überfluteten die ganze Or­gel, als wollte der himmlische Vater sie selbst zu diesem Festtag schmücken. Unbeschreiblicher Jubel, als die Orgel mit ihren vielen Pfeifen den ersten Choral er­tönen ließ, und Tausende von Soldaten fielen nun mit ein: „Großer Gott wir loben Dich!" zur Ehre und zum Lobe Gottes und zum Dank für die Errettung aus Not und Tod.

Da standen sie nun vereint, die vielen Gefangenen, die Posten der Wachkomman­dos, Gewehr bei Fuß, Offiziere und Soldaten aller Waffengattungen, Deutsche, Amerikaner, Engländer, Polen, Franzosen und Italiener. Viele Zivilisten umsäum­ten den Stacheldrahtzaun und bestaunten das unglaubliche Geschehen im Gefange­nenlager. Sogar der Bischof von Rimini als höchster kirchlicher Würdenträger war zur Einweihung der Orgel erschienen und spendete den Segen an die vielen Tausen­de verlorener Kreaturen, die in ihrem Lobsingen nur noch eine Bitte und Hoffnung zum Ausdruck brachten: „endlich heimgehen dürfen!" Diese gemeinsame Andacht und der gewaltige Chor der Gefangenen lockerte ebensoviele Tausende von Tränen, und plötzlich entdeckten unsere Bewacher in uns nicht mehr den Feind, sondern den Mitmenschen, den ein bitteres Schicksal hinter Stacheldraht verbannt hatte. Von diesem Tage an zog ein neuer Geist in das Lager ein, und vieles wurde besser und erträglicher.

Keiner, der damals dabei war, wird diesen denkwürdigen Tag jemals vergessen, sei er Deutscher, Brite, Amerikaner oder Italiener.

Hier waren sie alle eine Gemeinde, und alle glaubten sie an einen Gott, dem sie nun gemeinsam mit ihrem Lobsingen huldigten.

Längst ist das Lager leer und nichts erinnert mehr an die vielen Tausenden von Ge­fangenen im Lager 14 von Bellaria bei Rimini.

Irgendwo in einer italienischen Kirche soll unsere Orgel noch stehen: Manches Jahr habe ich nach ihr gesucht, aber sie leider nicht gefunden.

Trotzdem wird sie mir und vielen anderen Kameraden unvergesslich bleiben, hat sie uns doch in schwerster Zeit und bitterster Not, geschaffen aus dem Abfall des Krie­ges, Trost und Hoffnung gegeben und uns zurückgeführt in die Heimat zu unseren Lieben, aber auch zu unserem Herrgott, der sie als Mittler zwischen Freund und Feind mit ihren himmlischen Klängen hat entstehen lassen.

Friedrich Schärer,  Weil a. Rh.-Ötlingen

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